5 6 LOB DES UNSCHEINBAREN Zu Thornton Wilders Unsere kleine Stadt Thornton Wilders dreiaktiges Schauspiel Our Town ist 1938 erschienen. Die Handlung ist einfach: Der erste Akt schildert das tägliche Leben in der amerikanischen Stadt Grover s Corners im Staat New Hampshire am 7. Mai Der zweite Akt beginnt tausend Tage später und schildert die Heirat eines jungen Paars; wie diese Liebe begann, wird in einer grossen Rückblende innerhalb dieses Akts dargestellt. Der dritte Akt spielt im Sommer 1913 auf dem Friedhof der kleinen Stadt: die junge Frau ist gestorben und geht zu den Toten, die auf der Bühne sitzen und dem Begräbnis zusehen. Entgegen der Mahnung der Toten kehrt sie für einen Tag in ihr vergangenes Leben zurück; aber sie hält es nicht aus, mit dem Bewusstsein der Vergänglichkeit der Gegenwart zu leben, und so fügt sie sich in ihr Schicksal, tot zu sein, das Leben in der kleinen Stadt zu vergessen und auf ein unbekanntes Neues dahindämmernd zu warten. Auch in diesen dritten Akt wird also eine Rückblende eingeschoben; schon längst Vergangenes wird noch einmal aus dem Gewesensein heraufgeholt und als etwas Gegenwärtiges dargestellt. Die Zeiten schichten sich im Spiel ineinander, und es bestünde die Gefahr, dass Verwirrung entstünde, wenn nicht eine Zentralfigur diese Umschaltung vom Jetzt auf das Damals oder auf das Später ordnete. Diese Zentralfigur ist bei Wilder der Spielleiter. Er begrüsst die Zuschauer und macht sie mit der Situation bekannt. Er holt Sachverständige herbei, die dem Publikum kleine Vorträge über die geografische, geologische, ethnologische, konfessionelle, soziale und politische Lage von Grover s Corners halten. Zugleich aber weiss der Spielleiter von Anfang an, wie das Spiel endet. Für den Spielleiter ist alles, was auf der Bühne geschieht, zugleich Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft ganz nach Belieben. Dieser Durchbruch durch die Zeitgebundenheit hat eine ganze Reihe höchst sonderbarer Folgen. Zunächst wird klar, dass jeder einzelne Mensch unter den Milliarden Menschen, 7 die vor ihm gelebt haben und die nach ihm kommen werden, nur etwas kaum fassbar Winziges ist. Zugleich wird damit aber auch sichtbar, dass angesichts der Unendlichkeit alle Unterschiede zwischen den Menschen einschrumpfen: Das, was den Menschen ihren Wert gibt, hat nichts mit Zeit und Ort, nichts mit sozialem Ansehen und politischer Bedeutung zu tun. Das eigentlich Menschliche ist völlig gleichgültig gegenüber der Frage, wann jemand gelebt und welche Sprache ihn erzogen hat. Weil das nun aber so ist, kann sich der Sinn des Menschenlebens auch im kleinsten Rahmen ganz erfüllen. Die Tiefe der grossen Erlebnisse Geburt, Lieben, Arbeiten, Sterben ist unabhängig davon, ob das Publikum zuschaut oder nicht. Grover s Corners ist eine sehr durchschnittliche Stadt mit sehr durchschnittlichen Menschen; aber sie haben die gleiche Chance wie die berühmtesten Männer des Altertums oder die namhaftesten Frauen der Gegenwart. Wilder singt das Lob des Unscheinbaren; er beugt sich in liebevoller Ehrfurcht zu dem anspruchslosen Dasein der Unberühmten hinab. Die kleine Stadt ist wie ein Spiegel der ganzen Welt; das Spiel verwandelt alles Leben auf dieser Erde in eine Parabel, in ein Gleichnis jeglichen Daseins zu jeder vergangenen oder künftigen Zeit. Das für die Menschheit Entscheidende ist auch durch die neuen technischen, sozialen und wissenschaftlichen Prozesse nicht wesentlich verändert worden. Die Aufgabe bleibt die gleiche wie im Altertum: zu lieben. In seinen historischen Exkursen lässt Wilder den Spielleiter die Frage stellen, was denn von den Menschen nach ein paar tausend Jahren noch übrig bleibe. Vom alten Babylon, der Zwei-Millionen-Stadt, kennen wir heute gerade noch die Namen der Könige und ein paar Handelsverträge; von dieser kleinen Stadt hier, die wie auf einem Röntgenschirm erscheint, wird man nach ein paar tausend Jahren vielleicht auch nur etwas ganz Beiläufiges und Nebensächliches wissen; aber wichtiger als diese Fakten bleiben heute wie damals und künftig die simplen Wahrheiten, dass auch die Lebenden tot sind, wenn sie nicht lieben, und dass wir unsere Zeit mit Alltäglichkeiten hinbringen. Aber zugleich erfüllt sich unser Dasein in solchem Umgang mit Alltäglichem. Wir müssen so leben, als ob wir noch eine Million Jahre Zeit
6 hätten; dabei aber haben wir vor jeder Veränderung Angst. George in Our Town will nicht erwachsen werden, und Emily klagt am Hochzeitstag: Warum kann ich nicht noch für eine Weile so bleiben, wie ich bin? Auch die kleine Stadt kann nicht so bleiben, wie sie 1901 gewesen ist. Das idyllisch-einfache Leben vor dem Horizont der Ewigkeit ist in dem Augenblick, da der Spielleiter es uns sehen lässt, schon vorüber unwiederbringlich vorbei. Es nützt nichts, sich gegen den Strom der Zeit zu stemmen. Wilder selbst ist das Gegenteil eines Romantikers: er nimmt jede Gelegenheit wahr, darauf hinzuweisen, dass sich auch inmitten der stürmischen Veränderungen die eigentlichen Aufgaben des Menschseins nicht verändern. Allerdings müssen wir, um heute das Abenteuer unseres Daseins zu bestehen, unser Bewusstsein sehr energisch umformen. Wir müssen, meint er, unsere Fantasie anstrengen, um herauszubekommen, was uns die Veränderung unserer Lebensgewohnheiten an neuen Aufgaben zur Pflicht macht. Gerhard Sanden DAS BESTMÖGLICHE LEBEN LEBEN Ein Gespräch mit Anne-Louise Sarks Unsere kleine Stadt ist 1938 geschrieben und spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was reizt dich daran und was kann es uns heute erzählen? Im Zentrum des Stücks steht die Frage, was man aus seinem Leben machen kann, wie man das Leben besser zu schätzen weiss die Menschen um einen herum, den Alltag. Gerade heute, da wir alle so beschäftigt, abgehetzt und auch ein wenig zynisch sind, scheint mir diese Frage wichtiger denn je. Wir haben das Gefühl, alles schon gesehen zu haben. Wir neigen dazu, die Vergangenheit zu romantisieren zurückzuschauen und zu denken, dass das Leben früher einfacher und weniger hektisch war. Ich als Frau kann nur sagen, dass ich das anders sehe. Tatsächlich scheinen die Figuren bei Thornton Wilder mehr Zeit zu haben. Sie leben in einer schönen kleinen Stadt, umgeben von Natur, aber auch sie kämpfen damit, das Leben wertzuschätzen. Darum ist das Stück für mich so zeitlos, weil es um uns Menschen geht. Um die Frage, wie wir jeden einzelnen Tag leben sollen, obwohl wir wissen, dass wir am Ende sterben werden. Und daraus ergibt sich eine noch wichtigere, eine politische Frage: Wenn wir alle so klein und unbedeutend sind und nur für einen Moment hier sein dürfen wie können wir dann das bestmögliche Leben leben und dieses mit anderen teilen? Ich meine damit die zeitlose Frage nach einem gemeinsamen Miteinander und gegenseitigem Respekt. Das Stück scheint gerade für uns heute vielleicht etwas lieblich, romantisch und sentimental, ich denke aber, darunter liegt auch eine gewisse Melancholie. Es liegt mehr Dunkelheit darin, als man auf den ersten Blick vermuten könnte, und diese Dunkelheit möchte ich an die Oberfläche holen. Du arbeitest mit einer grossen Besetzung, die zudem divers zusammengesetzt ist. Warum diese Entscheidung? Es ist mir sehr wichtig, wer auf der Bühne repräsentiert wird, da die Bühne auf gewisse Weise die Welt ausserhalb 8 9 des Theaters widerspiegelt. Dass in einem solchen Stück
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16 MEIN HARTFORD Wir kamen an dem Mietshaus in der New Britain Avenue vorbei, wo wir drei Jahre lang gewohnt hatten. Wo ich auf meinem pinken Fahrrad mit Stützrädern die Linoleumflure auf und ab gefahren war, damit die Kinder vom Block mich nicht wegen der Farbe verprügelten. Ich bin sicher hundertmal am Tag diese Gänge entlanggefahren, und die kleine Klingel klirrte jedes Mal, wenn ich gegen die Wand am Ende stiess. Wie Mr. Carlton, der Mann, der in der hintersten Wohnung lebte, ständig herauskam und mich tagtäglich anbrüllte: Wer bist du? Was machst du da? Warum gehst du nicht raus? Wer bist du? Du bist nicht meine Tochter! Du bist nicht Destiny! Wer bist du? Doch all das, das ganze Gebäude, ist jetzt fort eine Jugendherberge an seiner Stelle, und selbst der von fast meterhohem Unkraut überwucherte Anwohnerparkplatz (wo keiner parkte, weil keiner ein Auto hatte) ist verschwunden, alles niedergewalzt und mittlerweile ein Gemeinschaftsgarten, die Vogelscheuchen darin aus Schaufensterpuppen gebastelt, die der Ramschladen an der Bushnell weggeworfen hatte. Ganze Familien gehen jetzt dort schwimmen und spielen Handball, wo wir früher geschlafen haben. Menschen schwimmen Schmetterling an der Stelle, wo Mr. Carlton irgendwann, allein, in seinem Bett gestorben ist. Wie es wochenlang niemand bemerkte, bis die ganze Etage zu stinken anfing und das SWAT-Team (ich weiss nicht, warum) kommen musste, um mit Gewehren die Tür einzuschlagen. Wie man Mr. Carltons Sachen einen ganzen Monat lang in einem grossen Eisencontainer draussen hinterm Haus stehen liess, und ein handbemaltes Holzpony mit baumelnder Zunge in den Regen hinausguckte. Trevor und ich radelten weiter, vorbei an der Church Street, wo Big Joes Schwester sich den goldenen Schuss gesetzt hatte, dann vorbei an dem Parkplatz hinter dem MEGA XXXLOVE DEPOT, wo Sasha sich den goldenen Schuss gesetzt, dem Park, wo Jake und B-Rab sich den goldenen Schuss gesetzt hatten. vier Jahre Knast bekam ohne Bewährung. Was viel war, zumal für einen weissen Jungen aus der Vorstadt. Da war Nacho, der sein rechtes Bein im Golfkrieg verloren hatte und den man an Wochenenden in der Maybelle-Autowerkstatt, wo er arbeitete, dabei antreffen konnte, wie er mit einem Skateboard unter die aufgebockten Autos glitt. Wo er einmal ein hübsches schreiendes, rotgesichtiges Baby aus dem Kofferraum eines Nissan hob, den jemand während eines Schneesturms im hinteren Teil der Werkstatt stehen gelassen hatte. Wie er seine Krücken hinwarf und das Baby mit beiden Händen hielt, und die Luft ihn zum ersten Mal seit Jahren trug, während der Schnee herabkam, dann wieder vom Boden aufstieg, so hell, dass eine gedämpfte, gnädige Stunde lang jeder in der Stadt vergass, warum er versuchte, aus ihr wegzukommen. Da war Mozzicato s in der Franklin, wo ich meine ersten Cannoli gegessen hatte. Wo nichts, was mir vertraut war, jemals verging. Wo ich in einer Sommernacht gesessen und aus dem Fenster im fünften Stock unseres Gebäudes gesehen hatte, und die Luft war warm und süss, wie sie es jetzt ist, und da waren die leisen Stimmen junger Paare, und ihre Converse und Air Force One klopften auf den Feuertreppen aneinander, während sie sich nach Kräften bemühten, den Körper in seinen anderen Zungen sprechen zu lassen, das Aufzischen von Streichhölzern oder Flammen aus Feuerzeugen, die glänzten und geformt waren wie 9 Millimeter oder Colt 45. Das war unsere Art, den Tod lächerlich zu machen, Feuer auf die Grösse von Cartoonregentropfen zu schrumpfen, sie dann wie Lügengeschichten durch Zigarillospitzen zu saugen. Weil der Fluss hier irgendwann ansteigt. Er tritt über seine Ufer, um all das einzufordern und uns zu zeigen, was wir verloren haben, wie seit jeher. Ocean Vuong 28 Ausser dass B-Rab überlebte, nur um Jahre später erwischt zu werden, als er Laptops aus dem Trinity College stahl, und 29 2ff7e9595c
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